• Wer hat Angst vor Virginia Woolf? • - mein17424. Tag


o hatte es, auf englisch natürlich, irgendjemand mit einem Stück Seife auf den Spiegel einer New Yorker Bar geschrieben. Das war mitten in den wilden 50er-Jahren, Graffitis, Petticoats und Rock’n’Roll kamen in Mode, und Edward Albee, der sich im New Yorker Künstlerviertel Greenwich Village mit allerlei Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, trank just an jenem Abend in besagter Bar ein Bier. Das Seifengraffiti, das er im Spiegel nächtens las, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Doch warum es ihm begegnet war, wurde ihm erst Jahre später bewusst. Er hatte ein Theaterstück geschrieben, für das er einen Titel benötigte. Er dachte an den Songtitel „Who’s Afraid of the Big, Bad Wolf?” aus dem Disney-Film „Three Little Pigs” (1933), doch bekam er keine Genehmigung.

»Was tun? – Das Seifengraffiti! Die Rettung in der Not . . .«

Immerhin klang „Woolf” genauso wie „Wolf”, und wer konnte es schon wissen, vielleicht verhalf ihm der bekannte Name gar zu einem Popularitätsschub. Und so ging im Jahr 1962 ein Theaterstück mit dem Titel „Who’s afraid of Virginia Woolf?” über die Bühne. Es wurde Edward Albees Erstlingserfolg, und zugleich sein internationaler Durchbruch als Theaterschriftsteller; darüberhinaus provozierte sein Stück einen der großen Skandale der Theatergeschichte.

Und das alles wegen einem Stückchen Seife? Nein, nein, Seifenkomödien mit bitterem Beigeschmack gibt es ja schon sehr viel länger, doch so erbarmungslos wie Albee hatte noch kein Dramatiker zuvor dem Publikum den Spiegel ins Gesicht gehalten. Mit kühl distanziertem Blick entlarvte er die trügerische Fassade der amerikanischen Upperclass – dessen ureigenstes Kind er als Adoptivzögling eines steinreichen Theaterunternehmers war.

Zum Titel äußerte sich Albee einmal folgendermaßen: „Natürlich bedeutet »Who’s afraid of Virginia Woolf?« – »Who’s afraid of the big bad wolf?«: Wer hat Angst, ein Leben ohne falsche Illusionen zu leben. Und es erschien mir wie ein typischer, intellektueller Collegewitz.”

Kein Wunder, dass es zwei Professoren samt ihren Gattinnen sind, die zu nächtlicher Stunde, mit vom Alkohol entblößter Zunge, ihre zerrütteten Ehen demontieren, bis zum bitteren Ende.

Virginia Woolf suchen wir übrigens in Albees Theaterstück vergeblich. Und doch ist es aufschlussreich, dass sie als Namensgeberin Pate stand, entschlossen und aufrecht, wie einst Jeanne d’Arc, denn sie lebte ihr Leben ohne falsche Illusionen. Immer mehr drängt ihre Bedeutung als Schriftstellerin ins Bewusstsein der Menschen, doch wenige wissen, wie die unerbittliche Suche nach dem rechten Wort ihren Lebensalltag bestimmte:

„How can we combine the old words in new orders so that they survive, so that they create beauty, so that they tell the truth?”

Diese Fragestellung peinigte und marterte sie zu jeder Stunde — doch die Gewissenhaftigkeit, mit der sie zu Werke ging, nahm mit den Jahren noch zu. Berufen war sie, ihrem Genius etwas noch nie Dagewesenes abzuringen, und so diente sie ihm demütig bis zur letzten, erschütternden Konsequenz. Was macht indess ihr schriftstellerisches Werk so außergewöhnlich?

Es macht den „Bewusstseinsstrom unserer Gedanken” in vollendeter Weise sichtbar. In einem ihrer über eintausend Essays schildert sie die Wesensmerkmale dieses nie enden wollenden Bewusstseinsstroms:

„Look within and life, it seems, is very far from being »like this«. Examine for a moment an ordinary mind on an ordinary day. The mind receives a myriad impressions — trivial, fantastic, evanescent, or engraved with the sharpness of steel. From all sides they come, an incessant shower of innumerable atoms . .  Life is not a series of gig lamps symmetrically arranged; life is a luminous halo, a semi-transparent envelope surrounding us from the beginning of consciousness to the end. Is it not the task of the novelist to convey this varying, this unknown and uncircumscribed spirit, whatever aberration or complexity it may display, with as little mixture of the alien and external as possible?”

Elastizität des Geistes bedingt einen elastischen Körper.
„Geist überwindet Materie”, so nennt sich bezeichnenderweise diese Yogaübung.

„Schaue nach innen, so erscheint uns das Leben ganz anders, als wir es für gewöhnlich wahrnehmen. Studiere nur für einen Augenblick ein gewöhnliches Bewusstsein an einem gewöhnlichen Tag. Empfängt es nicht Myriaden von Eindrücken — triviale, fantastische, flüchtige, oder welche, die sich einprägen wie von einem scharfen Stahl gestochen? Sie strömen von allen Seiten auf uns ein, ein unaufhörlicher Schauer unzähliger Atome . . . Leben ist nicht eine symmetrisch angeordnete Reihe von Einspännerlampen; Leben ist ein strahlender Lichtschein, eine durchscheinende Hülle, die uns umgibt, solange wir ein Bewusstsein tragen. Ist es nicht die Aufgabe des Romanschriftstellers, diesen stets changierenden, diesen unbekannten und nicht fassbaren Geist, so zerstreut oder vielschichtig er sich auch zeigen mag, mit möglichst wenig Zutaten an Fremdem und Äußerlichem zu vermitteln?”

Sie hat es getan, unermüdlich, in höchster Konzentration und Verdichtung des Geistes. Wie schwierig diese Aufgabe ist, mag der erahnen, der nur einmal versucht, eine Minute lang wach und konzentriert jeglichem Gedanken, der durch unser Bewusstsein strömt, zu folgen, und ihn hernach penibel zu protokollieren – auf Papier, versteht sich. Da gerät man leicht ins Schwitzen.

Doch was Virginia Woolf zu höchster Meisterschaft gebracht hat, das soll auch uns zum Ansporn dienen. Denn wie es unserer Natur entspricht, sind wir als geistige Wesen hier auf der Erde um zu lernen, bewusst mit unseren Gedanken umzugehen; sie zu steuern und zu lenken. Das sollten wir bedenken: die Lebensenergie, die uns erhält und ständig erneuert, verdanken wir letztendlich nur der unfassbaren Konzentrationsfähigkeit unseres Schöpfers. Und da wir göttlichen Ursprungs sind, ist diese Fähigkeit zur Konzentration in jedem Menschen angelegt.

Diese Konzentrationsfähigkeit zu entwickeln, ist unabdingbare Voraussetzung, um höheren geistigen Aufgaben gewachsen zu sein. Sie zu üben, dafür ist unsere Erde geplant und erschaffen worden. Wir gehen die Lebensstufen aufwärts, vom unbewussten Sich-treiben-lassen auf den Wogen unserer Gedanken, über das wache Begleiten des fließenden Bewusstseinsstroms, bis hin zur Beherrschung unserer Gedanken durch Wunschkraft und geistiger Ausrichtung auf ein konkretes Lebensziel hin. Zielgerichtetheit ist ein entscheidendes Merkmal jeglicher positiver Entwicklung und Entfaltung. Und auf ein sinnvolles Lebensziel wirklich wach und bewusst zuzuschreiten, das benennen wir gerne mit der fernöstlichen Lebensweisheit: „Der Weg ist das Ziel”.

Übung macht den Meister. So war das immer schon. Eine Anekdote aus dem ZEN-Buddhismus erzählt von einem Schüler, der nach sieben Jahren des Meditierens – an einem regnerischen Tag – erwartungsfroh seinen Meister aufsucht, um ihn zu fragen, ob er jetzt erleuchtet sei. Der Meister lächelt, und stellt den Lehrling auf die Probe: „Wie herum hast du deinen Regenschirm abgestellt, und auf welcher Seite der Tür?” – irritiert hält der Schüler inne, und antwortet verlegen: „Aber Meister, versteht doch, mein Herz war voller Verlangen, Euch zu sprechen . . . ” – der Meister schickt den Schüler zur Tür hinaus, nicht ohne ihm einen Ratschlag mit auf den Weg zu geben: „Gehe nach Hause und meditiere weitere sieben Jahre, und dann komme erneut!” Ob es an jenem Tag wohl wieder regnen wird?

Ist es verwunderlich, dass die Buchstaben des ZEN in dem Begriff KonZENtration zen-triert sind? Doch keine Bange, wir müssen nun nicht alle gleich zu ZEN-Mönchen werden. Konzentration heißt eigentlich nichts anderes, als für das Hier und Jetzt wach zu werden, und es vollkommen bewusst zu erleben. Unbewusstheit und Tagtraum sind identisch. Angst und Sorgen – was wird morgen, böse Schwestern – was war gestern: das alles gehört zur Tagträumerei und spielt sich in der virtuellen Zukunft oder in der Vergangenheit ab. Und unser Leben? Dem begegnen wir nur und ausschließlich in der Gegenwart, im Hier und Jetzt. Und so begegnen wir im Schüler, der seinen Regenschirm unbedacht in irgendeine Ecke stellt, und mit den Gedanken längst beim Meister ist („was wird er sagen?”), unversehens uns selbst. Ach ja, der liebe Alltag! Hier wartet auf uns die beste Konzentrationsschulung, die es gibt. Und kostenlos ist sie noch dazu.

An den kleinen Aufgaben des Alltags erkennen wir am deutlichsten, wie uns der Tagtraum gefangen hält. Einige Beispiele, die mir in ähnlicher Form immer wieder mal passieren:

So lernt man Konzentration. Doppelte Handgriffe, kleine Missgeschicke, Bücklinge, wenn etwas hinunterfällt. Es lohnt sich, einmal zu zählen, wieviele solcher Irritationen wir in der ersten Morgenstunde nach dem Aufstehen erleben. Noch besser ist es, wenn wir dies einige Tage lang tun, und uns bemühen, die Anzahl mehr und mehr zu reduzieren, bis wir die magische „Null” erreicht haben. Glückwunsch! Dann sind wir aufgewacht. Willkommen in der Gegenwart. Das wahre Leben heißt mit einem Lächeln uns willkommen.

Wir lassen uns nun hoffentlich nicht mehr wahllos dahintreiben, vom trägen Bewusstseinsstrom unserer Gedanken, oder? Lebendige Fische schwimmen stromaufwärts, und das stärkt sie ungemein.

Hat jetzt noch irgendjemand Angst vor Virginia Woolf? Nein, wirklich, wir brauchen uns vor Virginia nicht zu fürchten. Und wenn schon, dann darf’s Ehrfurcht sein. Die tut uns allen gut. Hingegen alle Ängste, die uns im Tagtraum binden, weichen der Liebe und dem Licht . . . . . wo Virginias Feder spricht . . .

Empfehlung für Menschen mit wenig Zeit zum Lesen, aber mit viel Sehnsucht nach Muse im Herzen: „Das Mal an der Wand: Gesammelte Kurzprosa”, erschienen im Fischer-Verlag, ISBN: 978-3-10-092551-0.
Vorsicht, Suchtgefahr!




Lang sollst Du leben! - Dein 6940. Tag


nd hoch dazu. »Congratulations!« Unverhofft kommt oft. So ist das nun mal mit Geburtstagen. Einmal im Jahr, da trifft es jeden; ob jung, ob alt, ob groß, ob klein, Geburtstag haben, das ist fein. Und bist Du heute dran mit feiern, so sing ich fröhlich dir ein Lied: „Wie schön, dass du geboren bist, ich hätte dich sonst sehr vermisst . . .”

Wie wir unsere Geburtstage gestalten, das hängt von des Pudels Kern ab, der uns treibt. Der eine mag’s, im Mittelpunkt zu stehn, der andre flieht den lauten Ort. Es lebe die Toleranz!

»Man muss die Feste feiern wie sie fallen!« so sagt’s der Volksmund seit jeher, und so fallen sie uns reichlich in den Schoß – was mach ich bloß – denn Geburtstage und Jubiläen, Taufen und Hochzeiten, sowie vielerlei andere Anlässe in Verwandschaft und Bekanntschaft fordern uns geradezu heraus — uns einmal folgende Frage gefallen zu lassen: warum das Ganze? Wem tu’ ich den Gefallen? Empfinde ich’s als Freude oder wird es mir zur Qual? Das schöne ist, man hat die Wahl. Tut man es nur, weils jeder tut? Ich bitte dich, wo bleibt Dein Mut! Den anderen es recht zu machen, das nennt man gern eine „gesellschaftliche Verpflichtung”.

Was ist Wahrheit, was ist Dichtung? Verhelf uns Shakespeare zu mehr Licht. In seinem Lustspiel „Was Ihr wollt” bittet Olivias Diener Fabio den Narren des Herzogs um einen Gefallen.

FABIO: . . . Wenn du mich lieb hast,
laß mich seinen Brief sehen!
NARR: Lieber Herr Fabio, tut mir dafür
einen andern Gefallen!

FABIO: Was du willst.
NARR: Verlangt nicht, diesen Brief zu sehn!

Man sieht, da kommt man leicht in die Bredouille. Der Narr hält lächelnd uns den Spiegel vor, schaut nur hinein, wer lugt draus vor? Ein Tor, wer glaubt, von Eitelkeit ganz frei zu sein.

Wie könnten wir der Welt uns ganz entziehen, da wir ein Teil von ihr doch sind? Den Menschen freut der Mensch, mein Kind. Und Freude teilen, das vervielfacht sie. Wir schaffen Harmonie, wenn wir auf unsre Stimme hören. Sie warnt uns leise, wenn wir schwanken: zwischen Fanum und Profanum müssen wir entscheiden, jeden Tag. „Fest” oder „Feier”, beide Begriffe wurzeln im römischen „fanum”, das Heiligtum als den der Gottheit geweihten Ort bezeichnend. Und so hat jede Feier, und insbesondere ein Geburtstag, etwas Religiöses an sich. Das lateinische „Religio”, in seinem wahren Sinne, heißt Rückbindung; weit mehr bedeutet dies, als Rückbesinnung auf sich selbst — den Blick nach innen richtend, folgt er bald nach oben, um unsren Schöpfer hoch zu loben. Ihm verdanken wir es, dass wir sind; Schöpfer sind wir, als sein Kind. Weitet sie, die Herzenstüren! Unser Leben sei ein Fest und eine Feier. In der Stille. In der Fülle. Musik und Tanz begleite es.

»Caro mio ben«, liebstes Geburtstagskind! Sei gut zu dir. Und das Geschenk für Dich, das wartet hier solange, bis Du kommst . . .

Guter Zucker weckt unsere Lebensgeister.

Pralinen, die nicht dick machen. Dafür machen sie sehr klug. Damit kommt man durch alle Prüfungen, sei’s nun das Abitur oder sonst was. So wird schon alles gut, wenn man nur das Rechte tut. Vertraue ihm, dem Schicksal, das aus Shakespeares Feder spricht!




Herzen und Masken - mein 17410. Tag


Heute ist Aschermittwoch, die Narrenasche färbt den Schnee . . .

„Wann i oft a bissl ins Narrnkastl schau’, dann siech i a Madl mit Aug’n so blau . . . ” – so sang der österreichische Schlagerbarde Peter Cornelius vor etlichen Jahren. Wissen Sie denn überhaupt, was ein Narrenkastl ist? Nein? Das tröstet mich, denn ich wusste es auch nicht, bis mir eines Tages ein Salzburger Freund mit charmanter Verbeugung ein Österreichisch-Deutsch-Wörterbuch überreichte. „Ins Narrenkastel schauen” – das bedeutet so viel wie träumerisch sehnsuchtsvoll in die Ferne blicken – und ich dachte immer, ein Narrenkastel sei ein Käfig, in den man gesteckt wird, wenn man sich als Narr entblößt.

»Nur nicht auffallen! Mach dich nicht zum Narren!« So wurden – und werden wohl noch immer – viele Kinder am Gängelband geführt, und mit der großen Erziehungsschere wird unser Bäumchen immerfort beschnitten, bis es traurig seine kümmerlichen Zweige hängen lässt. Kein Wunder, wenn es dann den Herausforderungen des Lebens wenig abzugewinnen weiss, und stattdessen viel lieber weit weg „ins Narrenkastl” schaut, wo es die Fantasiegestalten seiner Kindheit vorüberziehen sieht.

»Einmal nur die Rolle spielen, die ich mir erträumt habe! Einmal nur den grauen Alltag ganz vergessen! Einmal nur ein(e) andre(r) sein!« Und schon schlüpfts in bunte Kleider, hüpft und springt vor Lust und Freude, und verwandelt sich in das Wesen, das wir – die Zuschauer vor den Kulissen – einen Narren nennen.

Das Drehbuch ist geschrieben, die Rollen sind verteilt.
»Welche Rolle hätten’s denn gern?«

Und hinter den Kulissen?

Was da geschieht, das lässt sich nur erahnen. Was hinter Masken sich verbirgt, das scheut gar allzuoft das Licht - - und lächelt dir ins Angesicht.

Das Unterscheidungsvermögen zwischen Herzen und Masken will gelernt sein.

»Hinter leeren Fensterhöhlen wohnt das Grauen, und des Himmels Wolken schauen« - - »t i e f hinein«, so möchte man in Abwandlung der Schillerschen Verse sagen; Schneeflocken umwirbeln die Larventräger, und ein eisiger Wind sorgt für den letzten Schliff auf den polierten Masken.

Die Augen sind das Fenster zur Seele, sagt man. Warum ist es eigentlich Mode geworden, seine Augen bei Tag und Nacht hinter einer Sonnenbrille zu verbergen? Der Mensch – ein Potemkinsches Dorf? Hauptsache, die Fassade hält. Nur nicht aus der Fassung bringen lassen, selbst wenn man schon versteinert ist . . . .

Rückblende: Faschingssonntag, der Bär ist los. Es ist schon eine seltsame Karawane, die bei Schnee und Kälte durch die Straßen von Weil der Stadt zieht. Die ehemalige freie Reichsstadt, überwiegend katholisch geprägt, ist eine Hochburg der schwäbisch-alemannischen „Fasnet”. Traktoren ziehen die schweren Umzugswagen, und ein Melodienreigen verschiedenster Musikgruppen vermengt sich zu einem unentwirrbaren Knäuel in meinem halbbetäubten Ohr. Es ist das erste Mal seit meiner Kindheit, dass ich wieder solch einem bunten Treiben zusehe, und ich staune ob der Fantasie und Kreativität aller Beteiligten. Wieviel Arbeitsstunden wurden in die Vorbereitungen für diesen Umzug gesteckt! Weder Kosten noch Mühen wurden gescheut, um den Narrenzünften aus nah und fern eine adäquate Bühne für ihren großen Auftritt bereitzustellen.

Beeindruckende, handgeschnitzte Masken und die dazugehörigen, handgearbeiteten „Häser” (Narrenkleider) zeugen von einer hohen Originalität schwäbisch-alemannischer Fasnacht, einer jahrhundertealten Tradition, sowie einer hochstehenden Handwerkskunst, die treulich von Generation zu Generation weitervererbt wird. Und so wandeln von der Teufelsfratze bis hin zur personifizierten Güte fast alle Facetten menschlichen Gebarens an mir vorüber. Ein Schauspiel, das den Zuschauern den Spiegel der Welt vorhält, wie einst der Narr dem Herzog in Shakespeares Komödie „What You Want”. „Was ihr wollt”, das könnt ihr haben, und den Löffel gleich dazu. Denn die Suppe, einmal eingebrockt, will ausgelöffelt sein.

Wir tun uns schwer, den Faden, den die Parzen spinnen, bloßzulegen. Des Lebens Los, fällt uns das einfach in den Schoß? Gewisslich nicht, sonst sprächen wir nicht vom Los, das wir gezogen haben. Die Drahtzieher sind wir allein. Ursach’ und Wirkung, gestern wie heut’. Den Leuten sieht man’s ins Gesicht geschrieben, und um den Hals hängt schwer beladen — sie, die Schicksalskette unsres Lebens, mit den vielen Narrenschellen dran. Bei jedem Schritt ein jede hell erklingend, künden sie vom Karma, das es abzutragen gilt.

Gestern tanzten sie, die Hexen. Ein Veitstanz, schaurig schön und wild. Heute liegen sie in Schutt und Asche, die aufgekehrt sein will. Und wissen taten sie’s wohl vorher schon, mit einem Liedchen auf den Lippen: »Da Bach naa, da Bach naa, mit Kummer un mit Sorga, bis am Asch-, bis am Asch-, bis am Aschermittwochmorga . . . « (Den Bach hinunter, den Bach hinunter, mit Kummer und mit Sorgen, bis am Asch-, bis am Asch-, bis am Aschermittwochmorgen . . . ). So lautet das Credo der Schramberger Da-Bach-na-Fahrer, die in bunt geschmückten Holzzubern die eisigen Wasser der Schiltach befahren. Schiffchen ahoi! Der Katzenjammer lässt nicht lange auf sich warten, und auf den Fasching folgt das Fasten. So war’s, und so wird’s lang noch sein.

Zerknirschter Sünder, jetzt bereue?
Sei besser fest in Tat und Treue.
Erkenne dich, dein wahres Wesen.
Nur an dir selbst kannst du genesen.

Ist’s nicht die schönste Rolle auf der Welt, sich selbst zu sein? Dazu bedarf’s – hurra – keiner Verstellung mehr.

Die Larve schlüpft.
Heraus kommst du.
Wie aus dem Ei gepellt.
Geschenk und Freude für die Welt.

Erst wenn wir alle Masken abgelegt haben, zeigt sich unser wahres Herz. Wer sich von Herzen wünscht, sich zu erkennen, der steht unter Schutz. Symbol: der weiße Schirm. Die Trauer weicht der Freude. Die Finsternis dem Licht.




Ein Freudenspender sein - mein 17402. Tag


ie man in den Wald hineinruft, so schallt’s zurück! Ein Glück und eine Freude ist’s für den, der das begreift. Gereift hat sie in mir nun viele Jahre, diese an sich einfache Erkenntnis, und sie anzuwenden, ist eine effektive Möglichkeit, an der positiven Ausgestaltung unserer Welt teilzuhaben. »Lächle!« »Teile deine Freude!« Sag es ihm, wenn dir ein Mensch sympathisch ist.

Den anderen ob seiner Fehler zu kritisieren, damit tun sich viele allzu leicht. Wie schwer tun wir uns hingegen, einem lieben Menschen „ich mag dich!” oder „ich schätze dich!” zu sagen! Wir plagen uns, die Stimme wird heiser oder versagt sogar, vielleicht bekommen wir einen roten Kopf, und stottern dann ein leises „also, tschüss – bis zum nächsten Mal.” Und wenn’s hochkommt „hat mich gefreut, dich zu sehen.” Wissen wir denn, ob es ein Wiedersehen gibt?

Im Fußball nennt man dieses Verhalten defensives Spiel. Nur nicht zuviel von sich preisgeben. Der andere könnte ja . . . ja, was könnte er denn? Hinter unsere Fassaden schauen? Herzlicher reagieren, als uns lieb ist? Doch mit der Defensivtaktik ist noch keine Mannschaft Meister geworden. So schießt man keine Tore, und wenn schon, dann sind’s Eigentore.

Offensives Spiel bringt dagegen Schwung und Farbe ins Geschehen. So haben sich 1954 die Helden von Bern in die Herzen der Zuschauer gespielt. „Toooooor!” Grenzenloser Jubel beim 3:2. Sepp Herberger schließt seine Schützlinge in die Arme. Offen und geradeheraus. Taktiererei hat in der Gefühlswelt nichts zu suchen.

Wenn’s nur so leicht wäre, mit offenen Karten zu spielen! Da wandeln wir durch unsre schöne Welt, und verstellen uns bis zum Verbiegen. »Pokerfaces!« Legt die Karten auf den Tisch.

»Frisch!« – ja frischer noch muss sein,
was euch Leib und Seele nähre,
lasst des Schöpfers Werk hinein,
dass es Freude euch gewähre.
 
Kauet gut und beißet fest,
eure Schale zu durchbrechen,
Freundschaft sorgt dann für den Rest,
überwindet alle Schwächen!

Nüsse und Menschen müssen aus ihrer Schale befreit werden. Was der Nussknacker für die Nüsse ist, ist für den Menschen eine frische, lebendige Kost.

Wir können nur soviel Freude verschenken, wie wir in uns haben. Wie aber kommt Freude in uns hinein? Indem wir sie essen! „Frisch & knackig” heißt das Paar, das uns zum Freudenspender macht. Wie sollen wir erblühen, wenn unser Grünzeug im Gemüsefach die Köpfe hängen lässt? »Hinweg damit!« Der neuste Hit: Salat mit feuchtem Wurzelballen, »Ohlala!« (im gut sortierten Frischemarkt). Nicht dass Sie mich jetzt falsch verstehen: so hartgesotten bin ich nicht, dass ich die Wurzeln mitverspeise. Aber die Frische! Prana, pure Lebensenergie, bis zum letzten Salatblatt, selbst noch nach einer Woche. Jetzt kann ich Schnecken gut verstehen, denn die sind einfach auf den Geschmack gekommen.

Was unseren Augen für gewöhnlich verborgen bleibt, das macht die Kirilianfotografie sichtbar. Können wir noch in Ehrfurcht staunen? Das Leben, das uns die reine, unverfälschte Natur offenbart, ist Freude, Schönheit und Ordnung. Machen wir sie zu unserem Verbündeten, so werden wir genau wie sie: rein, natürlich, schön, und voller Freude. So wie kleine Kinder sind, wenn sie nichts Denaturiertes zum Essen und Trinken bekommen.

Jeder Mensch hat eine Bestimmung. Aus Licht geboren, zum Licht bestimmt!

Egal, wo du bist,
egal was du tust,
vergiss nie den leuchtenden Stern
über dir,
der dich behütet,
und der dich sicher führt.

Wer ahnt schon das funkelnde Feuer ewiger Liebe, solange wir in Schutt und Asche liegen? Der Diamant will bloßgelegt, geschliffen und polieret sein, erst dann kehrt Freude bei uns ein. Das ist ein langer Weg, der auch durch Dorn und Distel führt, doch übrig bleibt, einzig, allein: ein Freudenspender nur zu sein. Wie Paul Potts aus Wales, der niemals seine wahre Bestimmung aus den Augen verlor, auch wenn er jahrelang ganz unten war. »I think, that we’ve got the case of a little lamp of a coal-heaver is gotta turning into a diamond . . . « (Ich glaube, hier verwandelt sich das kleine Licht eines Kohlenträgers in einen Diamanten . . . ) kommentiert ein sichtlich bewegtes Jurymitglied das Vorsingen Pauls bei einem Wettbewerb. Paul gewinnt. Und wird zum Star, zu einem Stern, der ewig strahlt. »Jetzt kann ich endlich genau das tun, weswegen ich überhaupt hier [auf der Erde] bin – etwas, dass ich liebe und das mir so große Freude bereitet.« Uns auch, Paul, uns auch!

Herzen berühren,
Freudenspender sein,
Paul Potts lädt alle ein!




Quellenkunde III - mein 17396. Tag


ei, was für ein schöner Winter! Kinder, Kinder! Die Schneeflocken tanzen um die Wette, und keiner hat sie je gezählt. Oder doch? Aber ja, natürlich! Auch wenn wir nicht wissen, ob mehr Sterne am Firmament aufgereiht oder Schneeflocken am Boden aufeinandergeschichtet sind, so ist doch jedes Haar auf unserem Kopf gezählt, fein säuberlich im großen Weltencode geordnet, und wie viele heute ausfallen mögen, und ob sie nachwachsen werden oder nicht —— Gott Lob! Das braucht uns nicht zu kümmern. Wozu uns sorgen, wenn ER da ist, der für alles sorgt? Auch unsere bronzene Najade muss nun nicht mehr ganz so frieren; mit modischer Mütze und farblich abgestimmtem Schal lässt es sich wohl bis zum nächsten Frühling aushalten.

Selbst bei klirrender Kälte harrt die Nymphe an ihrer Quelle aus. Ein symbolischer „Jungbrunnen” vor dem Eingang der Bad Liebenzeller Paracelsustherme.

Und doch, ihr Blick bleibt nachdenklich, und in sich gekehrt. Eine gewisse Zurückhaltung ist ihr eigen, eine Art natürliche Scham verhüllt ihre Blöße. Ob man sie, den guten Geist der Quelle, für Jahrhunderte in den felsigen Klüften verborgen, um ihr Einvernehmen gefragt hat, als man sie aufspürte, um ihre anmutige Gestalt in eine starre Form zu gießen?

Sie hat es längst verziehen (denn sie ist eine gute Najade), und erfreut uns nun, zu Erz geworden, mit lieblichen Konturen. Und überdies lädt sie uns ein, in die heilenden Quellen einzutauchen, denen sie entsprungen ist.

Allein in Deutschland gibt es mehr als zweihundert Heilbäder, und jedes von ihnen hat charakteristische Wassereigenschaften und dementsprechend auch spezifische Heilwirkungen. Ob Sie in die eher kühlen Fluten eines Mineralbads eintauchen, oder lieber in die warmen Quellen eines Thermalbads: Jungbrunnen sind sie allemal. Während Mineralbäder eher ernährend wirken, sind Thermalwässer darauf spezialisiert, den Körper von Schlacken und Ablagerungen zu befreien. Oftmals finden wir im Bereich von Thermalwasservorkommen eine erhöhte Radioaktivität, die durch sämtliche Körperzellen hindurchschießt, und unerwünschte Ablagerungen regelrecht „bombardiert”. Doch keine Panik, das sind gute Strahlen! Das sieht man an den heiteren Gesichtern schmerzgeplagter Arthritispatienten, die nach einem Thermalbad erleichtert aufseufzen.

Erinnern wir uns an den guten alten Händel! Ja, den Musikus, den Georg Friedrich; Zeitgenosse und Gegenpol von Johann Sebastian Bach; beide im selben, berühmten Geburtsjahr 1685 geboren – mit seiner imposanten Leibesfülle muss Händel eine wahrhaft majestätische Erscheinung gewesen sein, doch plagten ihn Gichtschmerzen und Depressionen – eine unmittelbare Folge der Schmerzen. Ja, die Übersäuerung! Zuviel Arbeit, zuviel Essen, zuviel Händel —— damals schon wie heute. Großer Mann, was nun? Weltberühmt, und doch nicht glücklich. Doch der geniale Komponist wusste sich zu helfen — er erinnerte sich seines Heimatlandes, und reiste 1737 zur Badekur nach Aachen. Händel soll sich in die heißen Schwefelquellen gestürzt, und sich gegen alles gute Zureden der Badeärzte geweigert haben, das Wasser nach der verordneten Badedauer wieder zu verlassen. Erst nach sage und schreibe sieben Stunden entstieg er, wie er es empfand, als geheilter und neugeborener Mensch dem Thermalwasser. Das sei zur Nachahmung im übrigen nicht empfohlen – nicht jeder hat eine solche Rossnatur wie Händel.

„Gerettet! Heil! Hallelujah!” Nach London zurückgekehrt, verlieh der Komponist seinem Jubel Ausdruck in dem Werk, das bis heute als Inbegriff der Dankbarkeit und der Lobpreisung gilt: dem „Messias”, der sich die Herzen der Nationen im Sturm eroberte. Beim „Hallelujah” erheben sie sich, nicht nur die Herzen, nein, alle Hörer stehen auf! In London, es war im Jahr 1742, erhob sich König Georg der Zweite von England als Erster. Wo diese Hallelujahrufe ertönen, verwandelt sich der Konzertsaal in einen Tempel Gottes. Hier wird Musik zum heilenden Gebet.
 
hallelujah.js

(Ausschnitt aus einer Audioaufnahme, die unter einer Creative-Commons-Lizenz in der Wikipedia veröffentlicht wurde; für das Hintergrundbild gilt dasselbe)

Empfehlung zum Nachlesen oder Nachhören: „Georg Friedrich Händels Auferstehung”, 14 historische Miniaturen aus dem Werk „Sternstunden der Menschheit”, von Stefan Zweig)