Demut - mein 17381. Tag


edesmal, wenn ich meine Wohnung verlasse, trete ich unter einem Bild hindurch, das über meiner Eingangstür hängt. Doch längst nicht jedesmal tritt mir das Bild auch ins Bewusstsein, denn häufig eilen meine Gedanken den Füßen voraus, und sind mit allerlei Planungen und Überlegungen beschäftigt. Doch mehr und mehr gelingt es mir, entspannt und wach im „Hier und Jetzt” zu sein — weil ich für meine Vorhaben immer öfter eine großzügige Zeitreserve einplane — und dann richte ich den Blick nach oben zu besagtem Bild, das mich immer wieder mit seinen Farben und Formen erfreut. Eine Gestalt, die auf dem Boden kniet, und demütig bittend die Hände emporhebt — ein Werk der Grazer Künstlerin Karin Wimmer, die auch heute noch, in unserer vollständig digitalisierten Pixelwelt, virtuos mit Pinsel und Leinwand umzugehen versteht. Danke, Karin, für Deine großherzige Einwilligung zur Veröffentlichung!

Die Künstlerin schreibt zu ihrem Bild folgendes:

Mein Anliegen ist es, durch die Schönheit der Farben und Formen
davon zu künden, was die Seele berührt, was darüber
hinaus geht und was mit Worten nicht
beschrieben werden kann:

  • Die Freude und das Einssein im Schaffen.
  • Die Ehrfurcht, das Staunen und das Atmen mit der Schöpfung.
  • Die Kraft, das Talent, die Größe durch den Schöpfer.

Ein lichtes Demutsbild hat uns diese Künstlerin geschenkt, und wenn mein Auge es beim Verlassen der Wohnung streift – und meine Seele es gebührend würdigt – so trage ich es mit mir im Herzen, und gehe dann ganz anders durch den Tag. Vieles erlebe ich bewusster, und wenn es oft auch nur ganz kleine Dinge sind, denen ich für gewöhnlich keine weitere Beachtung schenke. Beispielsweise der Begegnung mit einer umgestürzten Fichte, die mir auf einem Abendspaziergang den Weg versperrte, und mir dadurch ermöglichte, die Elastizität meines Rückgrats zu überprüfen. Ganz hinunter musste ich mich bücken, auf den Zehenspitzen balancierend, und den Kopf einziehend, kam ich gerade drunter durch. Freiwillig nehmen wir ja solch eine Körperstellung ungern ein, denn sie macht Mühe; in der Frühe ganz besonders, wenn wir noch steif und unbeweglich sind.

Gerade weil wir die Demutshaltung nicht sehr mögen, hilft uns das Leben fleißig nach. Es beugt uns immer wieder, damit wir nicht aus der Übung kommen; denn schließlich gilt es zu lernen, sich der höheren Vernunft im Universum unterzuordnen. Ein probates Mittel, um uns Menschen zur Demut zu führen, sind Gefühle. Erleben wir ungute Gefühle, dann sollten wir ihnen auf den Grund gehen, denn wir sind auf allen Ebenen, und so auch hier auf der Erde, als dauerhaft glückliche Menschen geplant. Ein Beispiel aus meiner Tagesschule soll das verdeutlichen.

Tagesschule vom vergangenen Donnerstag, Tagesthema: Demut

Mein Unterrichtstag erwartet mich, der Tag ist durchgeplant, ich bin mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs, und muss nach dem Unterricht noch meinen Wocheneinkauf erledigen. Schätzungsweise gegen 19:00 Uhr werde ich wieder zu Hause sein. Alles läuft nach Plan, ich kaufe abends in Ruhe ein, gehe vollbepackt zum Bahnhof, in der Gewissheit, dass alle 30 Minuten ein Zug fährt, zur vollen und halben Stunde. »Ich habe also noch 20 Minuten bis zum nächsten Zug«, so denke ich, »schön, dass ich mich nicht beeilen muss«. Am Bahnsteig angekommen, studiere ich den Fahrplan. Beim Überfliegen bestätigt sich der 30-Minuten-Takt — doch was seh’ ich weiter unten? Nach 18:00 Uhr verlängert sich der Takt auf eine volle Stunde. Meine Mundwinkel verziehen sich nach unten. »Noch eine geschlagene Dreiviertelstunde!« Ich stehe in der Winterkälte, und warte. Der Zug kommt und kommt nicht, doch dafür der Hunger. Mit aller Gewalt und Macht. Er bewältigt sich meiner, dass mir ganz elend wird. Ich bin unglücklich und erschöpft. Mit Grauen denke ich daran, dass ich die Einkäufe noch meinen Hausberg hinaufkarren muss.

»Warum stehe ich da, und erlebe solche unguten Gefühle?« 45 Minuten habe ich Zeit geschenkt bekommen, um mich das zu fragen. Hat das etwas mit Demut, meinem heutigen Tagesthema, zu tun? Ich gehe hin und her und frage, immer wieder nach dem Wieso und Warum, doch das Universum schweigt. Bis zum nächsten Morgen. Nach dem Erwachen kommt die Antwort: »Du hast gestern Vormittag nicht auf deine Hungergefühle gehört, und das Mittagessen verschoben. Deshalb haben wir dein Abendessen um eine Stunde verschoben, und dich mit Hungergefühlen attackiert.« Tatsächlich, ich hatte schon weit vor 11:00 Uhr Hunger bekommen, und hätte nur die Arbeit früher abbrechen müssen. Was kümmert mich das, ob andere „Büromenschen” erst um 12:00 Uhr Mittag machen? Die Mittagspause ist dieselbe, ob eine Stunde früher oder später. Doch mir hilft sie um so mehr, je früher sie ist. Früher essen macht gesünder. Ich bin mein eigener Herr, so kann ich dafür sorgen. Doch das erfordert Demut.

»Danke, ich hab’s kapiert!« Jetzt bin ich wieder mit mir selbst im Reinen, und mir vergeben, das fällt leicht. Und schon heute kann ich die Erkenntnisse aus meiner Tagesschule in die Praxis umsetzen.

Zugegeben, demütig sein, das kostet Überwindung. Lassen wir uns doch einfach helfen! Das Universum ist unendlich selbstlos, wenn wir es um Hilfe bitten. Am besten jeden Morgen, gleich nach dem Erwachen, in der Dunkelheit – wenn wir noch ganz bei uns sind – denn da ist unsere Wunschkraft stark und ungebrochen. Jetzt, in der finstern Jahreszeit, sehnt sich unsre Seele umso mehr nach Licht. Demut ist der Weg, der direkt hineinführt, in die Lichtstrahlen der Liebe.

Ich habe bei der Digitalisierung des anfangs gezeigten Demutsbilds ein wenig an den Hebeln und Schaltern meiner Bildbearbeitungssoftware herumgespielt, denn es macht mich glücklich, zum Kind zu werden, das im Sandkasten herumtoben darf. Zu dem Ergebnis äußerte die Künstlerin, die das Original schuf, nachfolgende Gedanken.

»Es sieht jetzt aus wie ein Acryl-Tusche-Bild – dreidimensional im Auftrag der Schichten – die Farben sind sehr interessant. Es sind beinahe die Komplementärfarben. Ich habe mir sagen lassen, dass gelb-orange-rot die männlichen Farben seien und türkis-blau-violett die weiblichen. Optisch verbinde ich Licht mit warmen Farben, daher habe ich die gelb-orange-rot-Töne gewählt. Hingegen das innere Licht – Spiritualität – wird mit den türkis-blau-violetten Tönen ausgedrückt. Die Chakrenfarben bezeichnen auch diese Qualität. Wie interessant – finde ich – dass Du das Bild in diese Richtung wandelst. Für mich – wenn ich es deuten darf – die Demut, der inneren Stimme gegenüber, wird noch bewusster. Wie wenn es außen Nacht wäre – dadurch wird das weiße, etwas rosa gefärbte Licht, das auf der Erde golden wirkt, deutlicher . . .«

Intuitiv führte kindliche Neugierde meine Hand – dagegen erkennt die sachkundige Künstlerin mit klarem, geschultem Malerauge verborgene Zusammenhänge, und spricht sie aus. Danke, Karin.

Fassen wir zusammen, was Demut heißt:

der inneren Stimme gehorchen.

Und wenn Sie ab und an in Situationen geraten, die es Ihnen schwer machen, demütig zu handeln, so denken Sie immer daran:

»Trutzige Stämme gedeihen am Wind.
Ist der Weg einfach, verkümmert das Kind.
Steiniger Boden macht fleißig und froh,
du lernst dich bücken,
und weißt auch wieso . . .«

Das ist ein Walliserspruch, und gerade für die Schweiz lässt sich mit Fug und Recht behaupten: „viel Steine gab’s und wenig Brot”. Doch die Schweizer haben aus der Not eine Tugend gemacht. Sie haben seelischen Fleiß entwickelt, und haben ihr Land zu einem Paradiesgärtlein gemacht. Niemals in ihrer Geschichte haben sie anderswo nach „grünerem Gras” gesucht. Sie haben ihr Feld bestellt. Worauf warten wir noch?