• Meine Tagesschule – Deine Tagesschule? •


anchmal frage ich mich, ob ich der einzige Mensch bin, der so etwas wie die Tagesschule erlebt. Doch da sind durchaus Hinweise, dass dem nicht so ist. Die kleinen Erlebnisse, die uns den lieben langen Tag vom Aufstehen bis zum Schlafen gehen begleiten, sind nicht einfach nur Belanglosigkeiten. Da sind kausale Zusammenhänge, die uns etwas sagen wollen. Das wird mir umso deutlicher bewusst, je mehr ich versuche, über sie hinwegzusehen – und hinwegzugehen. Es ist so, als ob ein Blinder, dem sich die Augen wundersam geöffnet haben, sein Augenlicht zurückgeben wollte: »Nein, sehen, nein, das will ich nicht!« Wäre das nicht fatal? Doch wenn wir sie nicht sehen – und oft auch gar nicht sehen mögen: die Tagesschule – sie ist immer für uns da.

Die scheinbaren Belanglosigkeiten, die uns aus dem Füllhorn der Tagesschule entgegenpurzeln, haben alle eine Botschaft, durch die eine höhere, objektive Instanz zu uns spricht. Wie eine Stimme aus dem Radio, nur dass sie direkt aus dem Äther kommt. Wie war das? Wir erinnern uns: Sender und Empfänger, Physikunterricht zweites Jahr. Haben wir nicht eine innere Stimme? Wir können jederzeit eine Verbindung aufbauen. Stellen wir unsere Antennen also auf Empfang! Die Sendung hat schon längst begonnen . . .

Um genau zu sein, sie beginnt synchron mit unserem Wachbewusstsein. Und so liegt es auf der Hand, für was wir Sorge tragen müssen:

  1. wirklich aufzuwachen und
  2. bewusst durch den Tag zu gehen.

Die Erlebnisse der Tagesschule sind meist unscheinbar, und werden oft in ihrer wahren Bedeutung nicht erkannt. Doch gerade diese alltäglichen, unbedeutend erscheinenden Begebenheiten halten uns den Spiegel vor. Deshalb lohnt es sich, einmal genauer hineinzuschauen:

Da wanderte ich gestern durch ein einsames Tal, und es zeigte sich weit und breit keine Menschenseele. Es begann schon langsam zu dunkeln, und ich musste an den Nachhauseweg denken. Die Blase drückte, und ich entleerte sie. Es war wie verhext: seit über einer Stunde war ich niemandem begegnet, doch just in diesem Moment bog ein Jogger um die Ecke. Eine Stunde hat 3600 Sekunden, und ausgerechnet in den fünf Sekunden, in denen sich unserer beiden Wege kreuzten, musste ich Wasser lassen. Eine unangenehme Situation, und Schulung, für uns beide. Was war meine Schule? Mir kamen im Nachhinein einige Situationen vom Vortag, an denen ich erkennen konnte, dass ich mich mehr um Würde bemühen sollte – besonders dann, wenn ich für mich alleine bin, und ich denke, »dass es eh niemand sieht«. Und die Schule des Joggers? Sich darüber auszutauschen, wäre aufschlussreich gewesen – denn sie kann ja völlig anders als die eigene geartet sein.

Manchmal darf man auch als Statist in der Tagesschule anderer Menschen eine kleine Rolle übernehmen. Da marschierte ich mit festem Schritt und zwei Walking-Stöcken auf einem geschotterten Waldweg, und überholte zwei Spaziergänger, ein älteres Paar. Der Mann drehte den Kopf, schaute mir beim Gehen mit den Stöcken zu – und rutschte mit einem Bein auf den losen Steinchen weg. Ausgerechnet in den fünf Sekunden, in denen sich unserer beiden Wege kreuzten . . . Gut, dass sich beide eingehakt hatten, so war nichts weiter passiert. Doch durfte ich dem guten Mann nicht einen Wink mit dem Zaunpfahl – pardon, wollte sagen, mit den Walking-Stöcken geben? Und was mich anging: vielleicht hätte ich mein Tempo drosseln, und nicht so schneidig überholen sollen. Rücksichtnahme ist schließlich eine Zier. War ich am Vortag rücksichtslos?

Die Tagesschule zu enthüllen, und damit dem inneren Auge sichtbar zu machen, ist Nahrung für die Seele. Dieses Bemühen schärft sowohl Wahrnehmungsfähigkeit als auch Beobachtungsgabe, und treibt damit den Prozess der Selbsterkenntnis enorm voran. Der Blick wandert ständig hin und her, von Außen nach Innen, von Innen nach Außen. Rezeption und Reflexion reichen sich in kontinuierlichem Wechsel die Hand.

Wie eng wir alle miteinander verwoben sind, soll folgende Situation verdeutlichen: ich sitze an einem Tischchen in einer kleinen Selbstbedienungscafeteria, und verspeise mein Frühstück, das ich von zu Hause mitgebracht habe. Obst und gemahlene Nüsse. Ich versuche, bewusst zu essen, und mit meinen Gedanken bei der Mahlzeit zu bleiben. Eine Frau kommt herein, holt sich einen Apfelkuchen, setzt sich, und zieht ein Büchlein aus der Tasche. Während sie liest, rührt sie in ihrer Tasse. Sie schiebt ein Stück vom Apfelkuchen in den Mund, und . . . blättert weiter. Auf einmal schreckt sie auf. Eine Wespe hat es auf ihren Apfelkuchen abgesehen. Sie versucht, die Wespe zu vertreiben. Ohne Erfolg. Sie trägt den Teller mit dem Kuchen zum Fenster, und will es öffnen. Es klemmt, und öffnet sich nur einen kleinen Spalt. Die Wespe, die sie abschüttelt, will von dem Spalt nichts wissen, und kehrt alsbald auf ihren Teller zurück. Nichts zu wollen. Zwei Meter weiter lachen die herrlichsten Früchte von meinem Teller: Pfirsich, Melone, Birne, saftig und ausgereift. Doch das interessiert die Wespe nicht im Geringsten. Und so ist die Frau gezwungen, das Büchlein zur Seite zu legen, und ihre ganze Aufmerksamkeit dem Teller zu widmen, bis sie mit dem Essen fertig ist. Wie interessant wäre es für uns beide gewesen, über diese Situtation und die gegenseitigen Spiegelungen zu sprechen! Wieviel mehr könnten wir aus dem Fundus der Tagesschule lernen, wenn wir unsere Wahrnehmungen nicht für uns selbst behalten würden.

Die Zeit wird kommen, in der wir erkennen, wie vorteilhaft es für uns alle ist, wenn wir Erlebnisse aus der Tagesschule miteinander austauschen. Die Zeit des Lichts und der Geborgenheit erfordert, dass wir gemeinsam seelisch lernen. Im gegenseitigen Austausch multiplizieren sich die Lernschritte des Einzelnen in der Gesamtheit gleichgesinnter Menschen, und die Wahrheit ist: sie potenzieren sich sogar. Das ist die gewünschte Effektivität, mit der das Universum arbeitet. Die Eigendynamik will jedoch erst einmal freigesetzt werden. Jeder kann dazu beitragen. »Ermuntre dich, mein schwacher Geist!« – denn du bist stark, so du es willst!