till ruht der See. In ihm spiegelt sich alles, was über ihm aufragt. Wie oben, so unten – und so auch hier. Wir sehen, was sich an der Oberfläche des Sees zeigt. Doch den Grund, den tiefen – wer würde sich anmaßen, ihn zu schauen?
So wird es uns verständlich, warum es nicht so einfach ist, bis auf den Grund der Seele zu schauen. Die Seele ist dem See entnommen — so glaubten es unsere Vorfahren, und kleinen Kindern erzählt man heute noch, dass sie der Storch aus dem Teich hinter der Kirche herausgefischt und durch die Luft zu uns ins traute Heim geflogen hat.
Die Seele ist – - ein großes Rätsel. Wo kommt sie her, wo geht sie hin? Und überhaupt, was ist ihr Sinn? Mit unserem Verstand allein sind wir, ob schon geboren, doch verloren. Wir müssen lernen, ihn zu spüren und zu fühlen, den Urgrund unseres Seins.
Heute ging ich hinunter ins Städtchen, um mich mit den notwendigen Dingen bis zum Wochenende zu versorgen. Beim Gemüse- und Obsthändler herrschte Andrang kurz vor Ladenschluß. »Schau, welche Überraschung!« Ein bekanntes, liebes Gesicht. Eine Frau, die Freude und tiefe Dankbarkeit ausstrahlt. Wir gingen einmal ein Stück Weges gemeinsam den Wald entlang, und sie erzählte mir von den Schicksalsschlägen, die sie gemeistert hatte – ein schwerer Unfall, der sie eigentlich zum Krüppel hätte werden lassen – wenn sie nicht tapfer und im Vertrauen auf Gott an sich und ihrem Körper gearbeitet hätte. Dankbarkeit? Ja! Wenn ich sie so vor mir stehen sehe, gerade und aufrecht, und ihre Augen strahlen vor Glück, dann verstehe ich, was es bedeutet: neu geboren zu sein; im Wissen darum, welch großartiges Geschenk es ist, am Leben zu sein, gesund und munter auf beiden Beinen zu stehen, hin und her zu gehen, und mit allen Sinnen die Schönheit der Welt zu erkunden. Sie schüttelte mir lange die Hände, wünschte mir Gottes Segen, bedankte sich für das Gespräch, das wir damals geführt hatten, und sagte mir zuletzt mit einem Augenzwinkern: »Sie wissen ja, ohne den Heiligen Geist geht gar nichts!«
Wie recht hat sie! Die Gute hat es auf den Punkt gebracht. ER ist es, der uns führt. ER ist es, den man spürt. ER spricht zu uns, und wir – wir nennen seine Worte unsre innere Stimme; kurz – unsre Intuition. Hören wir auf sie, so wird uns Lohn. Und wer nicht hören will, muss fühlen. Eigentlich ganz einfach, oder?
Dankbarkeit steht uns gut zu Gesicht, nicht nur am letzten Tag eines zurückliegenden Jahres. Guten Menschen ist es ein Herzensbedürfnis, und zeigen kann man Dankbarkeit auf die unterschiedlichste Art und Weise. In Schiltach, dem kleinen Schwarzwaldstädtchen, in dem ich groß geworden bin, gibt es eine jahrhundertealte Tradition, den Silvesterzug. Wie gerne denke ich daran zurück! Schon am Vormittag ging es hinunter in den Keller, um die alten Öl- und Kerzenleuchten der Großeltern – aus Holz und Blech, mit verrußten und hauchdünnen Glasscheiben an den Seitenwänden – hervorzuholen, abzustauben, und instand zu setzen.
Dann, Punkt 20:00 Uhr, in tiefster Dunkelheit, war es soweit. Hunderte von Menschen versammelten sich vor dem Pfarrhaus, von dessen Fenstern Kerzen hell erstrahlten; nachdem der Pfarrer seine Ansprache beendet hatte, zogen alle Teilnehmer schweigend durch die Straßen bis zum Marktplatz. Jegliche elektrische Beleuchtung war rechtzeitig abgeschaltet worden, und nur einige hoch auflodernde Pechfackeln stießen ihre Funkenglut gen Himmel. Sie tauchten die mittelalterlichen Fachwerkgassen in ein schauerliches Licht- und Schattenspiel. Vor dem Rathaus angekommen, wurden die Leuchten entzündet, und ein heller, lichter Schein spielte auf den Gesichtern derer, die sie in der Hand hielten. Gesichter, vom Leben gezeichnet – und die flackernden Kerzenflammen gruben die Falten den Menschen noch tiefer in die Stirn, als sie tatsächlich, bei Tageslicht besehen, waren. Dann plötzlich wurde, von unsichtbarer Hand geführt, das Schweigen unterbrochen, und es erklang ein Choral in die Stille hinein . . .
Nun_danket_alle.js
Majestätisch und erhaben, feierlich und getragen verklangen die letzten Töne. Mir war es ganz warm ums Herz geworden, und ich fühlte mich an der Hand des Vaters unendlich geborgen. Es war ein Gefühl, als ob mir nie etwas Leidvolles geschehen könnte. Zu guter Letzt kam noch der Bürgermeister zu Wort, und dann wünschte man sich Gottes Segen, und alles Gute für das neue Jahr. So gingen wir nachdenklich und schweigend nach Hause; schon längst im Schlaf versunken, vernahmen wir aus weiter Ferne den Ruf des Nachtwächters:
„Wohlauf im Namen Jesu Christ,
das alte Jahr vergangen ist,
ein neues Jahr vorhanden ist.
Ich wünsch’ euch ein glückselig’ Jahr,
und was ich wünsche, werde wahr,
ewger Friede immerdar,
Lobet Gott den Herrn!”
Still ruht der See. Leise rieselt der Schnee. Er ist rar geworden, in unseren Breitengraden. Schneeweiß sind sie, die Schneeflocken, weil ihre Kristalle alle Farben des Lichts in sich tragen. Und manchmal, in den kostbarsten Momenten des Glücks, zerlegen die Strahlen der im Winter tiefstehende Sonne das Weiß der Kristalle in die schillernde Palette des gesamten Farbspektrums. So bunt, vielfältig, und farbenfroh werde unsre Seele! Das wünsch’ ich euch und Ihnen, verehrte Leserinnen und Leser, von ganzem Herzen.