Demut entwickeln - mein 17266. Tag


estern zog es mich hinauf, auf die lieblich gewellte Ebene des Heckengäus, das sich wie ein nachlässig hingeworfenes Tischtuch bis hin zu den Wipfeln der aus schattigen Tälern aufragenden Schwarzwaldtannen ausbreitet. So sog ich den würzigen Duft eines klaren Herbstmorgens ein, und erfreute mich an der Sonne, die an einem makellos blauen Bilderbuchhimmel emporstieg. Des öfteren mag ich hier verweilen – erinnern mich die sanft geschwungenen Hügel doch an die Ideallandschaften Italiens, wie wir sie in der Toskana, in Umbrien oder im Latium finden.

 

Eine typische Eigenart des Heckengäus sind seine Hecken – wer hätte das gedacht? Sie bieten einer Vielzahl seltener Pflanzen- und Vogelarten Lebensraum. So durchquert man immer wieder Naturschutzgebiete; lichte Mischwälder wechseln sich ab mit Streuobstwiesen, und gelegentlich radelt man an einer Schafherde vorbei. Die Schafbeweidung fördert die Erhaltung einer uralten Kulturlandschaft, die ohne Hege und Pflege in kurzer Zeit von Bäumen überdeckt wäre. Vorbei geht es an Weißdornhecken, an Sanddornbüschen und Schlehenbäumchen, und unvermittelt trete ich auf die Bremse: da prangen nachtblaue Früchte an flechtenbehangenen dürren Ästchen, die unter ihrer schweren Last schier zu brechen drohen; sie gehören zu einer Reihe wilder Zwetschgenbäume, die vom Heckengewirr umschlungen sind. Der ganze Boden ist voll, wie Ostereier liegen die süßen Früchte unter Grashalmen und verdorrten Blättern versteckt. Niemand hat sich die Mühe gemacht, sie aufzulesen. Erde zu Erde, Staub zu Staub – die Zwetschgen den Würmern? Ich bücke mich nieder, und fülle mit der eingesammelten Ernte meine Gepäcktasche; es ist ein winziger Bruchteil dessen, was noch auf dem Boden verbleibt. Die Würmer werden nach wie vor einen reichlich gedeckten Tisch vorfinden!

Sich bücken ist ein Zeichen von Demut. Der Bauer duckte sich einst im Frühjahr tief in seine Ackerfurche, um zu pflanzen, und noch einmal, tiefer noch, im Herbst vor dem Landvogt und dem Steuereinnehmer, um ihnen das zu geben, was man einen Zehnt nennt. Noch heute finden wir in alten Dörfern Zehntscheuern, und manche von ihnen sind hübsch herausgeputzt.

Der zehnte Teil der Ernte, der zehnte Teil des Einkommens – das ist der Anteil, den man leicht entbehren kann, und der sich seit biblischen Zeiten wohl bewährte – warum haben wir denn heute diese Richtschnur so sehr aus den Augen verloren?

Man kann die Kuh nur melken, solange sie gut im Futter steht – doch dann entwickelt sie einen mächtigen Appetit. Und nun? Jetzt stehen wir vor leeren Trögen. Sind daran nicht vor allem unsere überzogenen Wünsche und Forderungen schuld? Müssen wir nicht wieder von neuem lernen, eigenverantwortlich zu leben und zu handeln? Bescheidenheit ist eine Zier. In Zeiten wie der unsrigen sollten wir den Blick für das Wesentliche schärfen. Gesundheit und Zufriedenheit, das wär schon was; Glücklich sein und Lebensfreude, wenn’s denn ein bißchen mehr sein darf. Von staatlichen Händen sanft durchs Leben getragen, von der Wiege bis zu Bahre, from the cradle to the grave — diese Zeiten sind, gottlob, vorbei.

Bücken Sie sich, sammeln Sie Fallobst¹ auf und verwerten es, denn dann bauen Sie an Ihrer eigenen Gesundheitsvorsorge; Ihr Rücken wird schön elastisch dabei; geschmeidiger, als ihn ein Physiotherapeut jemals hinzubiegen vermag. Das untergegangene Atlantis hat es uns vor Augen geführt: wird es dem Menschen in seiner Haut zu wohl, so wird die Seele träge, und macht zu wenig Fortschritte.

Prüfen Sie einmal beim nächsten Spaziergang, was in Ihnen vorgeht, wenn Ihr Blick einen am Wegrand liegenden, rot eingefärbten Apfel streift. Was sind Ihre ersten Gedanken? Geringschätzung oder Wertschätzung? Dankbarkeit und Demut entwickelt leichter derjenige, der Entbehrung geschmeckt hat. Wären Sie bereit, den Apfel aufzulesen? Wer sich dazu überwinden kann, steht jederzeit unter Schutz – er wird nie Hunger leiden, was auch immer in diesen Zeiten des Umbruchs geschehen mag.

¹ Nach meiner Information ist laut Gesetz ab erstem November das Fallobst von Streuobstwiesen Eigentum desjenigen, der es aufliest (Baden-Württemberg). Möglicherweise gelten in anderen Bundesländern andere Bestimmungen.




Jungmädchensommer - mein 17263. Tag


er auch immer die letzten Tage des Septembers auf den Namen Altweibersommer getauft haben mag, dem sei’s verziehen; erfreuen sich doch Jung und Alt an ihnen gleichermaßen, am blauem Himmel und am milden Strahlenkranz der jetzt tieferstehenden Sonne. Nun ist es wirklich eine Wonne, sein Tagewerk für einen Augenblick zur Seite zu legen, sich auf ein Bänkchen zu setzen, und in die Sonne hineinzublinzeln.

 

In solchen Augenblicken freut sich die Seele zutiefst, und unsere Augen blicken dann in der Tat, sich entspannend und lösend, unvermutet auf ganz andere Dinge – auf schönere – als auf die, die für gewöhnlich unser Blickfeld zieren.

Lassen wir also ruhig den Blick frei schweifen, tun wir ihm keinen Zwang an, und lassen ihn die Dinge aufsuchen, die ihn wie ein Magnet anziehen. Schönheit allerorten, und niemand fand treffendere Worte für den Zauber dieser Tage, als Hermann Hesse:

„Setze dich nieder, wo du willst, auf Mauer, Fels oder Baumstumpf, auf Gras oder Erde: überall umgibt dich ein Bild und Gedicht, überall klingt die Welt um dich her schön’ und glücklich zusammen.”

Bald kommt sie wieder, die Zeit der Stille und Einkehr, und nur wer bereit ist, sich auf sie einzulassen, wird ihre gedämpften Stimmen auch vernehmen. Nur leise klingen sie, wie aus weiter Ferne; doch wer ihrer achtet, dem raunen sie die Antwort zu — die dem verborgen bleibt, der ständig hastet, rennet, ohne Ruh . . .




Geschenke - mein 17252. Tag


en Menschen treibt es in die Ferne, dort sucht er’s Glück – das Paradies. Da gibt es die Geschichte von den zwei Mönchen, die eines Tages ihre Zelle verlassen, um das Paradies zu suchen; sie irren durch die Lande, und es wird eine lange, beschwerliche Reise. Am Ende ihrer Tage kommen sie müde und hungrig an eine Einsiedelei, und sie klopfen an die Tür. Ein Mönch öffnet ihnen, und sie erkennen, dass sie an der Tür stehen, durch die sie gegangen waren, als sie einst ihre Zelle verlassen hatten.

Ergo, das Paradies liegt in und um uns, und wir sollten es hegen und pflegen, damit es nicht verwildert, und in einen jahrelangen Dornröschenschlaf versinkt. Doch müssen wir es erst einmal erkennen, und – natürlich – das tun wir gerne, umarmen und wachküssen.

Seit einem dreiviertel Jahr bin ich nun ohne Fahrzeug unterwegs. Seither erkunde ich mit dem Fahrrad meine nächste Umgebung, und immer wieder entdecke ich Perlen in der Natur, die mir mit dem Auto verborgen geblieben wären. Es müssen nicht immer die großen Ereignisse und Spektakel sein, oft ist es nur ein besonderer Baum oder eine interessante Bruchlinie im Gestein, an der die magnetischen Kräfte des Erdkerns kraftvoll den Körper umfließen. Gestern war es ein richtiges Arboretum, ein Hain mit herrlichen Bäumen, den man eigentlich unter südlicheren Gefilden erwarten würde; unter Zedern und Mammutbäumen wurde es licht und leicht in mir, und ich sah mich wandeln in duftenden Gärten unter plätschernden Brunnen in der Villa d’Este in Rom. Ein unglaublicher Kontrast zu den düster-schweigenden Tannen- und Fichtenwäldern des Nordschwarzwalds, und nur eineinhalb Stunden Radfahrzeit von mir entfernt (Pforzheim-Sonnenberg, beim Tornadostein).

Wie kam dieses Arboretum zustande? Alles hat sein Gutes, und so auch der Wirbelsturm, der vor 40 Jahren, von Frankreich her kommend, eine Schneise der Verwüstung durch die Lande zog – mithin eine Möglichkeit, die Natur neu zu gestalten, zum Wohl und zur Freude der Menschen.

Und noch ein Beispiel: Als vor fast 10 Jahren am ersten Weihnachtsfeiertag der Wirbelsturm Lothar¹ im Nordschwarzwald ganze Berghänge abrasierte, wurde viel Platz geschaffen, um einer natürlicheren Wiederaufforstung Rechnung zu tragen – weg von den schnellwachsenden, auf größtmöglichen Profit hin ausgerichteten Monokulturen, hin zu einem gesunden, bunten Wald der Vielfalt, der auch dem Erholungssuchenden mehr Abwechslung und Freude bietet. An der Schwarzwaldhochstraße, von Freudenstadt kommend, kann man kurz vor dem Schliffkopf ein Bannwaldgebiet durchstreifen, das nach dem Wirbelsturm nicht geräumt wurde; ein beeindruckendes Erlebnis, wenn man sieht, wie rasch sich ein Wald ohne Eingreifen des Menschen erholt, wie sich Flora und Fauna in harmonischer Eintracht entwickeln.

So bietet die Natur kostenlose Geschenke, die man suchen und entdecken kann, und jeder hat genügend davon vor der Haustür, ob man nun in der norddeutschen Tiefebene oder im Ruhrpott zu Hause ist. Wer bereit ist, sich diesen Geschenken zu öffnen, entfaltet ein wichtiges seelisches Talent: „Paradies zu Hause schaffen, und nicht nach grünerem Gras suchen” – auch der, der uns erschaffen hat, ging uns hierin, nicht nur diesbezüglich, für Milliarden von Jahren voraus.

¹ Der Wirbelsturm Lothar, der nach dem heiligen Abend, dem traditionellen Abend der Geschenke, durch unsere Lande fegte, und viel Energie vernichtete, ist ein interessantes Beispiel dafür, um zu verstehen, wie das Universum die Energiebilanz der Menschen bereinigt. Wenn Menschen Fehlentscheidungen treffen, vernichten sie Energie – und wieviel fehlgeleitete Energie verpufft Jahr für Jahr durch den Konsumrausch und den Geschenkwahn vor Weihnachten? Der Wirbelsturm am nächsten Tag war ein Glied in der Kausalkette und (hoffentlich) ein mächtiger Denkanstoß.

Schenken als gesellschaftliche Pflicht?
Das wünschen die Gesetze nicht.
Schenken von Herzen?
Entzündet die Kerzen!




Frisch ans Werk - mein 17245. Tag


lles hat ein Ende nur die Wurst hat zwei . . . – so reimte einst schon Stefan Remmler, und etwas poetischer formulierte es Hermann Hesse:

„Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben . . . ”
(aus seinem berühmten Gedicht Stufen)

Urlaub vorbei, der Alltag ruft: 14 Tage Aufladung in den Bergen liegen hinter mir – und das war meine Rettung. Alle Akkus prall gefüllt, Reservebatterien eingebaut, so geht man freilich wieder anders durch die Welt; aufrecht, federnd, leicht, und doch mit festem Schritt.

Einige Impressionen

Dem Himmel ent- gegen: in Höhen über 2.000 Meter befreien sich Kör- per und Geist von unzähligen Schwingungen, die uns im Alltag schwächen – Elektrosmog, Handystrahlung, Lärm, und Luft- verschmutzung. Dafür tankt man völlig natürliche Radioaktivität und unverletztes Prana, wie die Inder die Lebensenergie nennen, die aus dem Kosmos auf die Erde einstrahlt. Da jubeln die Körperzellen und wollen Kopf stehen!

Mächtige Turbinen zwischen beklemmenden Felswänden: in der Höllentalklamm ionisieren tosende Wasserkaskaden und -fälle die Luft. Diese sprüht vor Elektrizität, und man kann das Britzeln auf der Haut und beim Einatmen spüren. Wer bei Regen die Höllentalklamm durchsteigt, kommt mit rundumerneuerten Lungen zurück. Gummistiefel und Taucheranzug sind dann allerdings zu empfehlen; so schlau werde ich das nächste mal sein, denn fürs erste war ich vollkommen durchnässt – trotz wasserdichten Schuhen und schwerer gewachster Regenjacke.

Man fühlt sich beim Durchwandern der Klamm unwillkürlich an Dante’s Inferno erinnert, an dessen visionäre Darstellung eines abgründigen Jenseits mit seinen jammervollen Gestalten, denen sich die Pforten des Paradieses auf immer verschließen: „Di subito drizzato gridò: »Come dicesti? elli ebbe? non viv’elli ancora? non fiere li occhi suoi il dolce lome?«” („Jäh auffahrend schrie er: »Was hast du gesagt? Verachtete? Lebt er nicht mehr? Trifft seine Augen nicht mehr das süße Licht?«”). Und man richtet seinen Blick voller Sehnsucht nach oben, dem wärmenden Licht der Sonne entgegen. Ein gewaltiges Naturschauspiel, das seinesgleichen sucht.

Die Schönheit der Bergwelt ist einfach atemberaubend. Alpenglühen am Abend, Frische und Klarheit am Morgen.

Ein Gemälde von Caspar David Friedrich? Diese Morgenstimmung auf dem Weg zum Zugspitzgipfel hätte ihn sicherlich fasziniert. Leinwand aufgestellt und Pinsel gezückt! Niemand konnte derartige Stimmungen besser einfangen als dieser begnadete Romantiker.

Der Lohn für die Überwindung von 2.200 Höhenmetern: grandiose Aussichten von Deutschland’s höchstem Berg. Wer Geld hat, fährt mit Seil- oder Zahnradbahn; doch ist’s im Leben mit viel Klugheit und Bedacht so eingerichtet, dass man sich schöne Gefühle erst einmal verdienen muss. Um 5:15 Aufbruch mit dem Radl in völliger Dunkelheit, um 12:15 nach 7 Stunden oben. Kein bißchen müde, Glücksgefühle!

Warum heißt die Zugspitze eigentlich Zugspitze? Weil ein Zug hinauffährt? Dann hätte der Berg noch vor 100 Jahren anders geheißen. Niemand konnte mir die Antwort sagen. Weiß es wer?

Lebensfreude pur – in anmut’ger Natur!

Einen ganzen Tag eintauchen in die Schönheit einer höheren Welt: was König Ludwig der Zweite von Bayern unter großen Schwierigkeiten in den Ammergauer Bergen erbauen ließ, ist heute ein unermessliches Geschenk an diejenigen Menschen, die Augen haben, zu sehen . . . Die Schönheit seiner Seele spiegelt sich wieder in den lieblichen steinernen Bauten und der anmutig gestalteten Natur; der Geist längst vergangener Inkarnationen durchweht das maurische Refugium oder das orientalische Brunnenhaus genauso wie die altgermanische Hundinghütte, in deren Mitte die vom Siegfriedschwert durchbohrte Weltesche aufragt. Ist es ein Märchen oder ist es wahr?

In dem Komponisten Richard Wagner hatte der König endlich einen Seelengefährten gefunden; jemand, der ähnlich fühlte und dachte, jemand, der ihn verstand, und mit ihm jene unstillbare Sehnsucht nach einer besseren und schöneren Welt teilte, die den empfindsameren Naturen zu eigen ist. Der König verinnerlichte die Werke Richard Wagners so sehr, dass er eins mit ihnen wurde; vor allem in der Gestalt des Parsifal fand er sich wieder – dem tugendhaften jungen Ritter, der den Weg der Selbsterkenntnis und Selbstvervollkommnung beschreitet, bis er sich endlich als würdig erweist, die Wunde des siechen Gralshüters, dem tödlich verwundeten König Amfortas, zu schließen – und damit der Macht des Todes für immer ein Ende zu setzen. Wunderbare Zeugnisse von König Ludwig’s Liebe zu Richard Wagner sind die im Schloßpark errichteten Inszenierungen wie die Venusgrotte, die Einsiedelei des Gurnemanz, und die Hundinghütte.

Wer Wagner’s Musik liebt, sollte sich ein wenig Zeit nehmen, und sich in der Hundinghütte niederlassen. Ich habe dort Teile aus der Götterdämmerung (Ring des Nibelungen) gehört, und es geht mir durch und durch, wenn ich nur daran denke. Diese Gefühlsintensität und die Unmittelbarkeit des Erlebens gehören zu den unwiederbringlichen Glücksmomenten unseres Daseins, und der Zauber eines solchen Ortes wirkt durch Raum und Zeit. Wie sagte einst der junge König, lange vor den ungeklärten Umständen seines Todes: „Ich möchte mir selbst und der Welt auf ewig ein Rätsel bleiben.” Was er sich ausbedungen, vollkommen ist’s gelungen. Und uns bleibt nur ein ahnungsvolles Staunen, in Ehrfurcht und in Dankbarkeit.

Schöne Tage waren es, bunt und abwechslungsreich wie ein spätsommerlicher Blumenstrauß, und schon dreht sich mit Schwung und Elan das Rad des Lebens weiter. Ein neuer Anfang im Alltag ist gemacht, verbunden mit dem Wunsch, dass es besser gelinge als bisher. Und vor allem eines: mit der Energie, die ich mitgebracht habe, schonend und vorsichtig umzugehen, damit sie mich lange trägt.




Was lasse ich in mich hinein? - mein 17217. Tag


Eine schöne Zahl, die  17 | 2 | 17  , nicht wahr? Die königliche „2” in der Mitte, symbolhaft geformt wie ein dahingleitender Schwan – erst gestern bin ich irgendwo an einem Bild vorbeigelaufen, das zwei Schwäne vor der berühmten japanischen Brücke zeigt, die Claude Monet mindestens zwanzigmal gestaltet hat; suchend und experimentierend, die gegenständ- liche Abbildung mehr und mehr durchbrechend, und damit zu einem wegweisenden Künstler der Moderne werdend. Monet’s Bilder tun gut – richten sie doch den Blick auf das, was unsere Seele so dringend benötigt wie das tägliche Brot: würdevolle Schönheit.

Ganz anders ging es mir hingegen mit einem Foto gepiercter, bauchnabelfreier Teilnehmerinnen an der „Love Parade” in Zürich. Die Bekleidung beschränkte sich auf weitmaschige Netzstrümpfe, die neugierigen Blicke fokussieren sich auf das schamlos zur Schau gestellte Fleisch. Ja, sie haben ihre lockenden Netze ausgelegt, und 800.000 Menschen zappeln und winden sich in ihnen – synchron zu den hypnotisierenden Technorhythmen, die jeden klaren Gedanken im Keim ersticken und betäuben. Das Foto brennt sich in meine Gehirnzellen ein; stundenlang schwirrt es in meinem Kopf herum, und verletzt mich zutiefst. Selbst heute morgen steigt es wieder ins Bewußtsein. Ich bekomme es nicht wieder los. Hätte ich doch nur diese Tageszeitung nicht aufgeschlagen! Alles gäbe ich darum, solch ein würdeloses Foto aus meinem Gedächtnis zu tilgen; negative Gedächtnisinhalte sind nutzloser Ballast für die Seele, und sie werfen oft für lange Zeit einen finsteren Schatten auf dieses hochsensible, feinschwingende Lichtgebilde.

er heilige Augustinus (*354) wirft in seinen Confessionen ein bezeichnendes Schlaglicht auf derartige Zusammenhänge; sehr einfühlsam schildert er die seelischen Vorgänge, die sein Jugendfreund Alypius während des Besuchs der Gladiatorenspiele im antiken Rom erlebte. Alypius ist jung, und als Student der Rechtswissenschaften neu in Rom: seine Studiengenossen schleppen ihn „trotz seines Widerspruchs und Sträubens mit kameradschaftlicher Gewalt ins Amphitheater…er aber sagte zu ihnen:

Wenn ihr auch meinen Körper dorthin schleppt und zu verweilen zwingt, könnt ihr vielleicht meinen Geist und meine Augen auf die Spiele lenken? Ich werde als ein Abwesender da sein und auf diese Art meine Überlegenheit über euch und jene Schaustellung beweisen . . . Am Ort selbst . . . raste die Menschenmenge in einem Taumel gräßlichen Entzückens. Alypius schloß das Tor seiner Augen und verbot seinem Geiste, sich mit so üblen Dingen abzugeben; hätte er doch auch seine Ohren verstopft! Denn bei einer Wendung des Kampfes traf ihn gewaltig das rasende Gebrüll der Menge; ihn packte die Neugier, und in der Überzeugung, er sei fähig, auch das Schlimmste mit seinem Blick zu besiegen und zu verachten, öffnete er die Augen; und da wurde seine Seele von einer schlimmeren Wunde durchbohrt als der Leib dessen, den er zu sehen wünschte, und er fiel jammervoller als jener, bei dessen Fall das Geschrei entstanden war: dies Geschrei drang durch seine Ohren ein und öffneten seine Augen um den Weg zu finden, seinen damals noch mehr tollkühnen als starken Geist zu verwunden und umzuwerfen; der war um so schwächer, als er sich selbst zugetraut hatte, was er nur von dem Vertrauen auf DICH (GOTT) erwarten durfte. Denn als er das Blut sah, trank er zugleich das Gift des Bestialischen; und er wandte sich nicht ab, sondern heftete seinen Blick auf das Schauspiel; er sog das Gräßliche in sich, und ohne es zu wissen, begann er an dem verbrecherischen Kampf Vergnügen zu finden, und wurde von blutiger Wolllust trunken. Und schon war er nicht mehr derselbe, der dorthin gekommen war, und wirklich ein Genosse derer, die ihn dorthin gebracht hatten. Was soll ich noch sagen?…Aber DU (GOTT) zogst ihn mit Deiner starken und barmherzigen Hand dort heraus, und lehrtest ihn nicht auf sich, sondern auf Dich (GOTT) zu vertrauen. Doch das geschah erst viel später… (Übersetzung aus dem Lateinischen: Erich Auerbach)”

Deshalb die eindringliche Bitte: Seid wählerisch mit dem, was ihr in euch hineinlasst – es prägt uns alle viel stärker, als wir ahnen. Und das gilt nicht nur für Bilder und Geräusche, sondern auch und gerade für das, was wir essen und trinken; denn es soll Balsam für das Haus unserer Seele, den Körper, sein, uns heben und weiten, zu den klareren Sphären des Geistes hinauf, der wir, unserer eigentlichen Natur nach, angehören.