s ist 14:00 Uhr; ich erwarte zwei Geschwister, Bruder und Schwester, zum Klavierunterricht. Sie haben sich etwas verspätet. Ich stehe am Fenster, und sehe sie über den Schulhof kommen. Ich denke – komisch, die Claire schaut ja aus, als ob sie kleiner geworden wäre . . . Da treten sie zur Tür hinein. Das Mädchen ist mir unbekannt, doch sympathisch – strahlende, aufgeweckte und fröhliche Augen, aufrechte, selbstbewußte Körperhaltung, natürliches Auftreten – wie alt mag es sein – sieben, acht Jahre vielleicht. Es kommt geradewegs auf mich zu, lässt den größeren Bruder gar nicht erst zu Wort kommen, und sagt zu mir frisch heraus: “Äh, ich bin der Bruder vom Jean, meine Schwester kann heute nicht kommen, sie muss für eine Zirkusaufführung den ganzen Nachmittag proben. Für sie hat meine Mutter mich hergeschickt.” – „Aha” – „Nein, du bist doch die Schwester, und nicht der Bruder” meint ihr Bruder – und alles lacht. Das Mädchen errötet nicht einmal – solch ein Selbstbewußtsein, in dem Alter – ein Geschenk.
Ein typischer Freud’scher Versprecher, der tief blicken lässt, und immer die Wahrheit offenbart. Das Mädchen hat tatsächlich schon viele männliche Eigenschaften in sich entwickelt, wie Mut, Zielstrebigkeit, und Durchsetzungsvermögen, sie hat sich aus der „femininen” Ecke herausbewegt, und arbeitet daran, ihre Persönlichkeit zum Ausgleich zu bringen. Der (oftmals unbewußte) Wunsch, die „andere Seite in uns” zu entwickeln, das in uns einzubauen, was uns zur Vervollkommnung fehlt, ist im Gemüt des Mädchens so fest verankert, dass ihr ein derartiger Versprecher überhaupt erst aus dem Mund kommen konnte. Hochachtung – sie wird ihren Weg erfolgreich gehen.
Also, keine Scheu und keine falsche Bescheidenheit, meine Damen und Herren, die Grenzen zwischen „männlich” und „weiblich” verwischen immer mehr. Man braucht mit der Zeit alle Vorzüge beiderlei Geschlechts. Das bedeutet nicht, dass Männer Kinder gebären sollen, aber typisch weibliche Vorzüge wie Fürsorglichkeit und Einfühlungsvermögen stehen auch Männer durchaus gut zu Gesicht; ihre typisch männlichen Talente gehen dadurch ja nicht verloren.
Und alles natürlich „vice versa”, das gilt gleichermaßen für Mann wie für Frau – gleiches Recht und gleiche Pflicht für alle . . .