ra, ri, ra – die Schneckenpost ist da! Noch rechtzeitig vor Heilig Abend kämpft sie sich durch tiefen Schnee, und tut uns kund, zu dieser Stund, durch ihren trichterförm’gen Mund – was ihres Wesens gleich in uns’rer Seele eingeschrieben steht. Die Schnecke, ein Symbol? Jawohl! Wir Menschen gleichen ihr – nicht bis auf’s Haar, doch bis auf’s Häuschen, das, spiralig windend, sich im Ohre findend, uns Botschaften aus höh’ren Sphären kündet.
Der Schneckengang – ich meine nicht den langsam schleichenden – vielmehr den sanft vibrierenden, der uns mit seinem filigranen Flaum im Innenohr das Hören erst ermöglicht – er ist ein Wunderwerk, ein Meisterstück des Schöpfers, der sein Handwerk von der Pike auf, in Jahräonen freilich, wundersam erlernet hat. Wir staunen angesichts der Wunder der Natur – und sind wir nicht ein Teil von ihr? – jedoch wer ahnt, was ihrem Werden, ihrer Schöpfung unfassbare Geisteskraft vorausging, um ihr Formen zu verleihen, die das Herz erfreut? Alleine ein Projekt wie uns’re Erde planen, mit allem, was da kreucht und fleucht, was wächst und schließlich aufrecht geht – dem Menschen inbegriffen, seiner Seele; ein’ Weltencode zu programmieren, ohne Fehl und Tadel – das ist Adel höchsten Geistes, unerhört! Doch was uns stört, ist: dass der höchste Schöpferatem, langsam gehend, ruhig und bedächtig – unserem Erdendasein gleicht, verwehend . . . nichts, so scheint es, ist, was bleibt . . . nur Hoffnung auf die Ewigkeit, und wer kann sich denn da schon sicher sein?
»Ruhig, mein Kind! Du bist nur blind, so lang vom Lichte Du Dich wendest!« Mit Gesäuse knackt’s Gehäuse meiner Schnecke tief im Ohr. Spielten wir als Kinder an des Nordmeers feinem Strand – es war, glaub’ ich, vor Helgoland – so suchten wir gewund’ne Schneckenmuscheln, pressten sie auf’s linke Ohr – galt es nun staunend zu erlauschen, was da raunend, wogend, rauschend, uns das Meer, von Ferne her, zu sagen wusste. Aus den Fluten formten sich gar schöne Kreise, stiegen Nixen, sangen leise, ihre wehmutsvoll gestimmte Weise, und sie pflanzten fortan in mein Herz – einen himmlisch heil’gen Schmerz; eine Erinnerung an jene Welt, nach der wir uns in dieser Welt so sehnen: Nur Geduld! Gibt es doch kein Zurücke, allein Dein Lebensglücke – liegt es denn nicht im Hier und Jetzt vor Dir? Und sieh’ Dir nur die Schnecke an, kommt sie nicht flott voran, nach ihrer Weise, auf der Lebensreise? Nur Geduld! Du willst den Himmel stürmen; Du kennst das Ziel, Du willst sehr viel, wir kennen Dein Begehren – Dich wird das Leben lehren. Der Weg ist weit. Das Ziel ist hoch. Die Siebenzahl ist uns’rer Seele eingeschrieben. Doch bis zur siebten Geistesstufe wir uns hoch erheben, wird unser Leben, wie wir’s kannten, vollständig umgewandelt, und uns’re liebgewonn’ne Erde längst geschlossen sein. Bis dahin ist’s noch weit, ein Wimpernschlag im Angesicht der Ewigkeit!
Schauen wir uns eine Schnecke nun einmal genauer an. Das schön geformte Kalkgehäuse fällt uns auf, und ihre hochgereckten Fühler, die, Antennen gleich, sich in den Himmel strecken. Die Wissenschaft hat längst es schon erkannt – die Fühler dienen ihr zur Orientierung, und so ertastet sie sich ihre kleine Welt. Mit dem Bauch am Boden kriecht sie nun umher, und ist mit Mutter Erde inniglichst verbunden. Wie die Kinder! Denn solange sie nicht laufen können, robben sie und krabbeln sie auf allen Vieren, gleich den Tieren. Ja, so schön war sie, die sel’ge Zeit, wo wir allein im spürenden Ertasten uns’re Neugier auf das Leben stillten.
Was sind nun uns’re Fühler? Sieben Sinne vorneweg, soviel ist klar, als dass da sind:
- Das Hören
- Riechen
- Schmecken
- Tasten
- Sehen
- Gleichgewicht
- und schlussendlich: der siebte Sinn.
Oha! Der siebte Sinn? Das muss was Außerird’sches sein. Ganz recht. Intuition nennt sich der siebente, der höchste Sinn – und ist er nicht der wichtigste zugleich? Denn wenn zu uns ein’ Stimme spricht – und dann wird’s licht – ein’ Stimm’ von innen raus, die uns an höh’re Sphären bindet, so ist es reine Wahrheit, die sie kündet. Ein’ solche Stimme, sie will wahrgenommen sein, und deshalb braucht’s geschulte Ohren. Was braucht es noch? Geduld! Intuition ist etwas, was sich langsam nur entwickeln lässt. Sie lässt sich nicht befehlen, und oft geht sie auch eigene, für unser Denken unschlüssige Wege. Das liegt daran, dass wir den Überblick nicht haben; zu eingeschränkt ist uns’re Sicht, wir seh’n des Schöpfers Planung nicht. So tröstet euch: genügt es nicht, zu ahnen, dass sie sorgfältig und weise ist?
Wer langsam gehet, der sieht mehr. Wer stille stehet, der hört viel genauer. Die Schnecke hat’s uns angetan. Sie geht voran, indem sie ihre kleinen Schritte prüft. Und ist es selbst des Messers Schneide, so tut die Kling’ ihr nichts zuleide; sie überwindet alle Hürden. Geht langsam Freunde! Habet acht, wenn Euch ein Schneck’ entgegenlacht – vorausgesetzt: der Winterstarr’ sei sie erwacht – sie will euch etwas sagen. Ihr prüft zu wenig, was Ihr tut! Langsam entscheiden, das macht Mut.
Wer Schnecken aufmerksam beobachtet, der wird erkennen, dass sie allezeit bergauf zu gehen wissen. Ist das nicht auch ein wunderbares Bild für den Entwicklungsweg, nach dem wir trachten? Die Seele muss, in Form der täglich wiederkehrenden Spirale, aufwärts streben, um der Bestimmung ihres Schöpfers nach gewissenhaft zu leben. Die schiefe Bahn lässt grüßen, aber aufwärts bitte! Dann führt die Lebensbahn uns Schritt für Schritt zum Ziel. Und dann begreifen wir vielleicht ein wenig davon, was uns der Liederdichter N. L. Graf von Zinzendorf (1700 – 1760) mit diesen Zeilen nahe bringen wollte:
„Jesu, geh voran
auf der Lebensbahn,
und wir wollen nicht verweilen,
Dir getreulich nachzueilen . . .”
»Langsam, langsam, Kinder, es eilt!« Jesus Christus handelte mit viel Bedacht. Das verlieh den sein’gen Schritten große Macht. Die Weihnachtszeit gibt uns Gelegenheit, die Unruhe im eig’nen Tun zu überprüfen.
Leseempfehlung zum Thema: Sten Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit, erschienen im Piper-Verlag, ISBN 3-492-25975-8
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